Johannes Brahms: Ein deutsches Requiem

„Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte verleihen, so stehen uns noch wunderbare Blicke in die Geisterwelt bevor.“
(Robert Schumann über Johannes Brahms in „Neue Bahnen“)

Mit dieser poetischen Prophezeiung lenkte Robert Schumann das Augenmerk der Öffentlichkeit auf das Schaffen seines erst zwanzigjährigen Freundes Johannes Brahms, welcher zu jener Zeit für das öffentliche Musikleben noch weitestgehend unbedeutend war. Brahms war seit seinem ersten Solokonzert 1848 in Hamburg als Pianist tätig und begann nur langsam und zögerlich, seine ersten Schritte als Komponist zu wagen. Der Besuch von Johannes Brahms bei Robert und Clara Schumann im Jahre 1853 – er markiert den Beginn einer jahrelang währenden, tiefen Freundschaft – sollte folgenreich für die private, ebenso wie für die musikalische Entwicklung des jungen Komponisten werden.

Als Robert Schumann im Jahre 1856, bereits gezeichnet von schweren Depressionen und Wahnanfällen, in der Heilanstalt Enderich bei Bonn verstarb, war Brahms tief erschüttert. Die Tatsache, daß er noch im selben Jahr die Arbeit am „Deutschen Requiem“ opus 45 – seinem ersten großen Werk für Chor mit Orchester – begann, mag wohl im Zusammenhang zum plötzlichen Tod des Freundes stehen. Denn gerade jenes Werk scheint ganz im Geiste Schumanns zu stehen, der – wie uns sein Projektebuch verrät – auch ein deutsches Requiem geplant hatte. Brahms selbst schrieb in einem Brief an Joseph Joachim:

„…so wüßtest du, wie sehr und innig ein Stück wie das ‚Deutsche Requiem‘ überhaupt Schumann gehört. Wie es mir also im geheimen Grunde ganz selbstverständlich erscheinen mußte, daß es ihm auch gesungen würde.“

Mit dem deutschen Requiem, einer Vertonung biblischer Texte zum Thema Sterblichkeit, wurde Brahms die langersehnte Anerkennung als Orchesterkomponist zuteil. Die Uraufführung 1868 in der Bremer Kathedrale, von Brahms selbst dirigiert, wurde vor mehr als 2500 Leuten zum ungeteilten Erfolg. Clara Schumann verlieh der überwältigenden Wirkung des Requiems Ausdruck, wenn sie im April 1868 in ihr Tagebuch schrieb:

„Mich hat dieses Requiem ergriffen, wie noch nie eine Kirchenmusik… Ich mußte immer, wie ich Johannes da stehen sah mit dem Stab in der Hand, an meines teuren Roberts Prophezeiung denken…, welche sich heute erfüllte. Der Stab wurde wirklich zum Zauberstab und bezwang alle, sogar seine entschiedenen Feinde.“

Der Erfolg des Requiems mit seiner romantischen, gleichzeitig an barocker Kirchenmusik orientierten Tonsprache ist keineswegs selbstverständlich, denn Brahms beschritt mit diesem Werk neue Wege, auf deren Akzeptanz er keineswegs bauen konnte. Bereits der Titel des Werkes läßt einen aufblicken: „Ein deutsches Requiem“?

Das Requiem als musikalischer Zyklus hatte zwar spätestens seit Mozarts d-moll Requiem den Weg aus dem sakralen Kirchengebäude in den Konzertsaal angetreten und sich dadurch aus dem liturgischen Kontext gelöst. Das Fundement eines Requiems aber, die vorgegebene Textfolge Introitus, Kyrie, Dies irae, Offertorium, Sanctus, Agnus dei und Communio in lateinischer Sprache blieben in Mozarts, ebenso wie in anderen Requien unangetastet. Brahms hingegen löst sich ganz aus der Tradition der Requien, wenn er seinem „Deutschem Requiem“ sechzehn Bibelstellen aus verschiedenen Büchern der Lutherbibel zugrundelegt. Anhand der Textauswahl offenbart sich das Brahmsrequiem dann auch weniger als dogmatisches Glaubensbekenntnis, als vielmehr als persönlicher Ausdruck von Brahms’ religiösen Gedanken und Gefühlen.

Im lateinischen Requiem steht das Flehen um Gnade und Erlösung nach dem Tod im Vordergrund, wobei der Tag der göttlichen Rache im „Dies irae“ eine zentrale Position einnimmt. Ganz anders bei Brahms. Kein Wort von Rache oder Strafe für die Sünden der Menschen vor dem höchsten Gericht, geschweige denn von der Befreiung der Menschheit durch Christi Tod. Im „Deutschen Requiem“ ist die zentrale Aussage die Versicherung ewigen Lebens sowie auch und besonders die Idee des Trostes für die Hinterbliebenen.

Wenn das Brahmsrequiem aufgrund seiner Textzusammenstellung eindeutig kein Requiem im eigentlichen Sinne ist, so steht es aber doch in einer kirchenmusikalischen Tradition. Sowohl die Auslassung des Rachegedankens nach dem Tod als Element lutheranischer Bibelauslegung als auch die Textauswahl weisen auf die Verwurzelung des „Deutschen Requiems“ im Bereich protestantischen Denkens und protestantischer Kirchenmusik hin.

Individuelle Textzusammenstellung aus der Lutherbibel ist Kennzeichen so berühmter Werke wie der «`Musikalischen Exequien»‘ opus 7 (1636) von Heinrich Schütz und der als „actus tragicus“ bekannten Trauerkantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ BWV 106 von Johann Sebastian Bach. Schließlich hat auch der Titel einen direkten Vorläufer: Schütz nannte seine „Musikalischen Exequien“ eine „teutsche Begräbnismissa“.

Aber nicht nur in ideeller, sondern auch in kompositionstechnischer Hinsicht stehen die Werke von Johann Sebastian Bach und Heinrich Schütz Pate für das „Deutsche Requiem“. Wenn Brahms die Sätze 3 („Herr, lehre doch mich“) und 6 („Denn wir haben hie keine bleibende Statt“) mit großangelegten Fugen enden läßt, beweist er seine präzise Kentnis des Bachschen Kontrapunktes. Weiteres, deutliches Zeichen seiner tiefen Bewunderung für Johann Sebastian Bach ist die Verwendung der Choralmelodie „Wer nur den lieben Gott läßt walten“, die dem „Deutschen Requiem“ zugrundeliegt. Und der Einsatz der Blechbläser im 7. Satz („Selig sind die Toten“) im Verbund mit chorischem Unisono in tiefer Lage auf die Worte „Ja der Geist spricht“ erzeugt geradezu eine mystische Stimmung, die an Heinrich Schütz erinnert.

Trotz der offensichtlichen Orientierung an kirchenmusikalischen Vorbildern ist das „Deutsche Requiem“ mit dem Wechsel von rezitativisch-liedhaften, homophonen, fast archaisch anmutenden, und kontrapunktisch geführten Partien doch ein typisch Brahmsisches Werk. Durch eine Fülle von motivischen Beziehungen zwischen den Sätzen sowie die spiegelsymetrische, um den vierten Satz („Wie lieblich sind deine Wohnungen“) als Achse angelegte Form verleiht Brahms dem Werk eine bestechende Einheit. So bilden die Sätze 1 („Selig sind, die da Leid tragen“) und 7 („Selig sind die Toten“), die thematisch im Zeichen der Seligsprechung von Hinterbliebenen und Toten stehen, mit dem dreitönigen, aufsteigenden „Selig-Motiv“ gleichsam den Rahmen des Werkes. Während in den Sätzen 2 („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“) und 6 („Denn wir haben hie keine bleibende Statt“) die Vergänglichkeit alles Lebendigen beklagt, bzw. die ewige Verwandlung alles Seienden gepriesen wird, erklingt im dritten („Herr, lehre doch mich“), ebenso wie im fünften Satz („Ihr habt nun Traurigkeit“), ein eindrucksvoller Dialog zwischen Chor und Solist (Bariton) bzw. Solistin (Sopran).

Gerade angesichts solch klarer Formstrukturen mag es überraschend erscheinen, daß das Werk eine langwierige, komplexe Entwicklung bis zu seiner endgültigen Fassung durchschritten hat. Von den ersten Skizzen im Jahre 1856 über die Wiederaufnahme der Arbeit 1860/61 gelangt es erst 1865 zur „vorläufigen“ sechssätzigen Fassung. Durch Hinzufügung des fünften Satzes nach der Bremer Uraufführung 1868 findet das Werk schließlich zu der „Endfassung“, wie sie heute im Konzertsaal erklingt.

Die Verschmelzung traditioneller Techniken mit Brahms persönlicher, romantischer Tonsprache, das Ineinandergreifen von lyrischen und hochdramatischen Passagen und nicht zuletzt die individuelle Textauswahl verleihen dem Werk seinen einzigartigen Charakter. Gerade weil Brahms hier so eine bestechend klare und persönliche Sprache spricht, vermag es den Hörer und die Hörerin so zu ergreifen, wie es Clara Schumann in ihrem Tagebuch notiert hatte. Es ist ein wahrlich menschliches Requiem und somit das, was Brahms gemeint haben mag, als er in einem Brief, bezugnehmend auf den Werktitel „Ein deutsches Requiem“ schrieb: „Ich gebe zu, daß ich recht gern auch das ‚Deutsch‘ fortließe und einfach den ‚Menschen‘ setzte.“

Uta Blaumoser