P. I. Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1

1874 schreibt Peter Iljitsch an seinen Bruder Anatol: „Ich bin ganz in die Komposition eines Klavierkonzertes versunken. Ich wünsche sehr, dass es Rubinstein in einem Konzert zum Vortrag bringt.“ Nikolaj Rubinstein, Direktor und Freund Tschaikowskys am Moskauer Konservatorium, war von dem Werk jedoch zunächst gar nicht begeistert. Peter Tschaikowsky schildert die Szene folgendermaßen: „Ich spielte den ersten Satz. Nicht ein Wort, nicht eine Bemerkung […] Ich fand die Kraft, das Konzert ganz durchzuspielen. Weiterhin Schweigen. ‚Nun?‘ fragte ich, als ich mich vom Klavier erhob. Da ergoss sich ein Strom von Worten aus Rubinsteins Mund. Sanft zunächst, wie wenn er Kraft sammeln wollte, und schließlich ausbrechend mit der Gewalt des Jupiter Tonans. Mein Konzert sei wertlos, völlig unspielbar. Die Passagen seien so bruchstückhaft, unzusammenhängend und armselig komponiert, dass es nicht einmal mit Verbesserungen getan sei. Die Komposition selbst sei schlecht, trivial, vulgär. Hier und da hätte ich von anderen stiebitzt. Ein oder zwei Seiten vielleicht seien wert, gerettet zu werden; das Übrige müsse vernichtet oder völlig neu komponiert werden.“

Tschaikowsky dachte jedoch gar nicht daran, irgend etwas an der Partitur zu ändern. Er widmete sie dem berühmten Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow, der sich hochachtungsvoll für die Widmung des Kunstwerkes bedankte, das „hinreißend in jeder Hinsicht ist“, wie er an Tschaikowsky schreibt. Im Oktober 1875 wurde das Konzert in Boston von ihm uraufgeführt. Die europäische Uraufführung erlebte das Werk erst drei Jahre später in Paris, und zwar dann doch unter Nikolaj Rubinstein.

Das Klavierkonzert in b-moll war Tschaikowskys erstes Solokonzert und einer der Grundsteine für seine spätere große Karriere. Mag sein, dass Tschaikowsky sich durch seine ersten, europaweiten Erfolge (wie etwa die Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“ 1870) ermutigt fühlte, sich auch einmal an einem Solokonzert zu versuchen. Dabei war er eigentlich eher spät zur Musik gekommen. Erst mit 22 Jahren hatte er nach Abbruch einer Beamtenlaufbahn angefangen, am Konservatorium in St. Petersburg Klavier und Komposition zu studieren. Später konnte sich Peter Iljitsch Tschaikowsky ein Leben ohne Musik gar nicht mehr vorstellen. 1878 schreibt er an seine Gönnerin und Brieffreundin Nadesha von Meck: „Sobald ein Entwurf fertig ist, finde ich keine Ruhe mehr, bis ich ihn ausgearbeitet habe, und ist das geschehen, so spüre ich das unwiderstehliche Verlangen, mit einer neuen Komposition zu beginnen. […] Ich neige ja sehr zu Schwermut und weiß, dass ich meinem Wunsch nach Müßiggang nicht nachgeben darf. Nur die Arbeit rettet mich.“

Über kaum einen anderen Komponisten gingen zu seiner Zeit die Meinungen so auseinander. Viele russische Komponisten lehnten ihn als zu „westlich“ ab, warfen ihm vor, zu sehr italienischen, deutschen und französischen Einflüssen unterlegen zu sein. In der westlichen Musikwelt dagegen galt er als „typisch russischer“ Komponist, aber als einer, der durchaus an die großen Komponisten Westeuropas heranreichte. Das lag daran, dass sich Tschaikowsky einer internationalen Musiksprache bediente, jedoch ohne dabei seine nationale Identität zu verlieren. Diese floss stets in seine Werke mit ein, weil „ich das russische Element in all seinen Erscheinungsformen leidenschaftlich liebe, mit einem Wort, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes Russe bin.“

Auch im ersten Klavierkonzert zeigt sich das „russische Element“: Im Hauptthema des ersten Satzes klingt ein ukrainisches Volkslied an, im Gegensatz zu einem zweiten, zarteren Thema. Im zweiten Satz dagegen taucht in den Streichern zu Beginn des Hauptteils die Melodie eines französischen Chansons (übersetzt: „Man muss sich amüsieren, tanzen und lachen“) auf. Das Hauptthema des dritten Satzes, das im Finale dramatisch ausgeformt wird, ist wieder einem ukrainischen Volkslied entnommen.

Angelika Miller